Zerreissproben by Winkler Heinrich August
Autor:Winkler, Heinrich August [Winkler, Heinrich August]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406684258
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2015-09-02T16:00:00+00:00
Die große Illusion.
Warum direkte Demokratie nicht
unbedingt den Fortschritt fördert
20. November 2011
Ein Phantom geht um in Deutschland – das Phantom der wahren Demokratie. Es trägt vorzugsweise ein grünes oder rotes, manchmal auch ein gelbes und neuerdings, aber nur in Bayern, ein schwarzes Gewand. Das Phantom ist ein stolzes Wesen. Es wähnt sich der repräsentativen Demokratie überlegen, wie sie in den Parlamenten Gestalt angenommen hat. Es meint den Volkswillen authentischer zu verkörpern als die Abgeordneten und die von ihnen gewählten Regierenden. Es hält Parteimitglieder im Zweifelsfall für in höherem Maß berufen, politische Entscheidungen zu treffen, als Mandatsträger. Wo Verfassungen und Parteisatzungen dieser Ansicht nicht ausreichend Rechnung tragen, gibt es demnach Änderungsbedarf.
Viele Freunde der wahren Demokratie verweisen gern auf das ehrwürdige Alter derselben. Die Wiege der Demokratie habe im klassischen Griechenland gestanden, so verkünden sie, ob mit oder ohne aktuellen Anlass. Manche wie etwa Oskar Lafontaine zitieren immer wieder aus der Gefallenenrede des Perikles das Wort, die Verfassung Athens heiße Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet sei.[1] Sie übersehen dabei freilich, was Thukydides, der diese Rede in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges überliefert oder besser nachempfunden hat, über das Regiment des Perikles bemerkt: Es sei zwar «angeblich eine Demokratie gewesen, in Wirklichkeit aber zur Herrschaft durch den ersten Mann geworden».[2] Und mit der Mehrheit des Volkes war es auch nicht weit her: Diese bestand aus Sklaven und Metöken, die kein Bürgerrecht hatten.
Die Schöpfer der ersten modernen Demokratie, der Vereinigten Staaten von Amerika, waren gute Kenner der klassischen Antike, aber keine Freunde der griechischen Versammlungsdemokratien. Diese seien ihrem Charakter nach Tyranneien gewesen, erklärte der Gründervater und spätere Finanzminister Alexander Hamilton 1788. «Wenn sich das Volk versammelte, befand sich am Ort der Debatte ein zügelloser Mob, der zur Beratung nicht fähig und zu jeder Ungeheuerlichkeit bereit war.»[3] Deswegen schufen die Väter der amerikanischen Verfassung ein wohldurchdachtes Gegenmodell in Gestalt einer repräsentativen Demokratie, in der sich die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt sowie Bund und Einzelstaaten gegenseitig ausbalancieren sollten. Das entsprach der Lehre von der Gewaltenteilung, wie sie der Philosoph Montesquieu 1748 in seinem «Geist der Gesetze» entwickelt hatte, und der angelsächsischen Tradition der «checks and balances».
Die Freunde der wahren Demokratie halten es eher mit Jean-Jacques Rousseau als mit Montesquieu. Wenn es zum Schwur kommt, sehen sie wie der Autor des «Contrat social» den «allgemeinen Willen», die «volonté générale», beim Volk besser aufgehoben als bei den Volksvertretern. In der Weimarer Republik sprachen Kritiker der pluralistischen, repräsentativen Demokratie wie der Staatsrechtler Carl Schmitt in Anlehnung an Rousseau dem vom Volk in direkter Wahl gewählten Reichspräsidenten ein höheres Maß an demokratischer Legitimität zu als dem in Parteikämpfe verstrickten Reichstag und der von diesem abhängigen Regierung. Für das parlamentarische System hatte Schmitt nur noch Hohn übrig: «In manchen Staaten hat es der Parlamentarismus schon dahin gebracht, dass sich alle öffentlichen Angelegenheiten in Beute- und Kompromissobjekte von Parteien und Gefolgschaften verwandeln und die Politik, weit davon entfernt, die Angelegenheit einer Elite zu sein, zu dem ziemlich verachteten Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse von Menschen geworden ist.
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